• Sa. Apr 1st, 2023

Die Grenze zur Gewalt

VonTanja Scheer

Okt 25, 2022

Der Fall des Handballtrainers André Fuhr zeigt ein Systemproblem des Sports: Zu viel Nähe kann blind machen. Es braucht Aufmerksamkeit – und Hilfe von außen.

Dein Weinen beeindruckt mich nicht“, ein Satz von Handballtrainer André Fuhr, wie eine von mehreren Spielerinnen dem „Spiegel“ berichtete. Ein Satz, wie er vielleicht auch in anderen Hallen, an anderen Orten manchmal fällt im Sport. Leistungssport tut weh, er ist hart. Aber wie weh darf es tun, wie sehr darf es die Seelen der Sportlerinnen verletzten? Und wie sollten Trainer und Athletinnen miteinander reden?

Sprache kann verletzen, degradieren, Menschen in Tiefen stürzen. Fuhr soll Spielerinnen bedroht und eingeschüchtert haben. Er soll sie bewacht, bedrängt und gefügig gemacht haben. Dass im Sport die Sprache manchmal rauer ist, wenn es darum geht, noch die letzte Energie zu mobilisieren, das Beste aus sich herauszuholen, ist bekannt. Es wird normalisiert. Eine Normalisierung, die dazu führen kann, dass die Worte von Betroffenen nicht ernst genommen werden. Wer das nicht aushalte, sei nicht hart genug für den Leistungssport , heißt es oft. Berichte werden bagatellisiert und Betroffene ausgeschlossen, obwohl ihnen zugehört werden sollte.

Der Blick wird unscharf

Der Fall Fuhr zeigt offenkundig auf, wie ein Trainer die Macht bekam, Personen psychisch zu zerstören – ohne gestoppt zu werden, nicht von Vereinen, wohl auch nicht vom Verband, wo er als Nachwuchsnationaltrainer angestellt war. Das System half ihm dabei weiterzumachen. Er ist damit kein Einzelfall. Die Nähe der Verantwortlichen in Vereinen untereinander, die sich meist seit vielen Jahren kennen, führt dazu, dass der Blick unscharf wird, überdeckt von persönlichen Erfahrungen. Im Verein sind sie als nette Menschen bekannt, ihre Rolle als Trainer, die Erfolg bringen, wird idealisiert. Negative Dinge, ein Raunen hier und da, wird ignoriert.

Umso wichtiger, dass Betroffene sich an eine unabhängige Stelle außerhalb des Vereins wie „Anlauf gegen Gewalt“ wenden können, wo ihnen zugehört wird. Die einordnet und unterstützt – aus der Distanz. Eine Blaupause für andere Vereine könnte der HSV Weimar sein. Eine unabhängige Aufarbeitungskommission arbeitet dort die Vergehen des Turntrainers auf, der wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden war. An der Aufarbeitung sind auch Betroffene beteiligt. Genau hinschauen, zuhören, die Strukturen verstehen, welche Gewalt begünstigen – das sollte jeder tun, der im Sport arbeitet.

Die Realität sieht häufig noch anders aus: Trainern wird die Macht gewährt, über Sportlerinnen und Sportler zu entscheiden. Die Grenzen dessen, was motivierend und was degradierend ist, sind fließend. Fuhr hat diese Grenzen mehr als überschritten. Und es sind auch die Vereine, die Eltern, die Funktionäre des deutschen Sports, die diese Grenze schützen müssen, damit Sportler und Sportlerinnen nicht an dem, was ihnen einst Freude machte, zerbrechen.